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Das 10-Milliarden-Geheimnis – oder die vergessene Erfolgsformel deutscher Startups

Während über Bürokratie und fehlendes Kapital geklagt wird, übersieht die Startup-Szene eine entscheidende Erfolgsformel: den langfristigen Unternehmergeist. In ihrem Gastbeitrag zeigt Dorothea von Wichert-Nick, warum nachhaltiges Wachstum Mut zur Transformation braucht – und wie München zum perfekten Nährboden für die nächste Generation erfolgreicher GründerInnen werden kann.

Als ich vor sechs Jahren anfing, GründerInnen in ihrer Transformation zu begleiten, fiel mir ein Muster auf: Die meisten scheitern nicht am Markt oder an fehlendem Kapital, sondern an der persönlichen Transformation vom Macher zum Leader. Viele entscheiden sich dann für den vermeintlich leichteren Weg – den frühen Exit. Dabei liegt genau hier die große Chance für die deutsche Startup-Szene.

Eine überraschende Zahl untermauert diese Beobachtung: Seit 1945 sind in Deutschland gerade einmal die 18 Decacorns* entstanden, also Unternehmen mit einer Bewertung von über 10 Milliarden Euro. Was sie eint: All diese Erfolgsgeschichten wurden von GründerInnen geschrieben, die langfristig am Steuer blieben. Von Dirk Roßmann, der Rossmann 49 Jahre führte, bis zu Reinhold Würth, der sein Unternehmen über 75 Jahre zum Global Player entwickelte.

Der blinde Fleck der neuen Startup-Generation

In der aktuellen Debatte um den Startup-Standort Deutschland wird viel über Bürokratie, fehlendes Venture Capital und ungünstige Rahmenbedingungen geklagt. Doch das erklärt nicht, warum frühere Gründergenerationen unter weitaus schwierigeren Bedingungen erfolgreicher waren.

Der entscheidende Unterschied liegt im Selbstverständnis der GründerInnen. Die Nachkriegsgeneration verstand Unternehmertum als langfristige gesellschaftliche Aufgabe. Götz Werner baute dm nicht nur als Drogeriemarkt auf, sondern prägte mit seinem Engagement für das bedingungslose Grundeinkommen gesellschaftliche Debatten. Aloys Wobben schuf mit Enercon nicht nur ein Windkraftunternehmen, sondern nachhaltige regionale Wirtschaftskreisläufe.

Heute dominiert oft ein anderes Mindset: schneller Exit statt langfristiger Aufbau, schnelle Rendite statt nachhaltige Wertschöpfung. Viele GründerInnen sehen sich mehr als Dealmaker, denn als UnternehmerInnen mit gesellschaftlicher Verantwortung. Genau das wird zur Wachstumsbremse. Denn echte Skalierung braucht mehr als clevere Finanzierung. Sie braucht UnternehmerInnen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – für Mitarbeitende, Gesellschaft und kommende Generationen.

Was die Decacorns von Otto bis dm anders machten

Die 18 deutschen Decacorns hatten eines gemeinsam: Sie wurden von UnternehmerInnen geführt, die die persönliche Transformation von dem / der GründerIn zum CEO wagten. Die sich immer wieder neu erfanden, um ihr wachsendes Unternehmen erfolgreich zu führen.

Diese UnternehmerInnen

  • finanzierten sich oft aus eigener Kraft
  • fanden kreative Wege, mit risikoarmen Finanzierungsformen zu arbeiten
  • nutzten Regulierung geschickt für sich
  • blieben auch in schwierigen Phasen an Bord

Was wirklich fehlt für die nächsten deutschen Superunternehmen

Das Problem liegt tiefer als in den oft zitierten äußeren Faktoren. Es geht um eine fundamentale Neuausrichtung der Startup-Kultur. Wir brauchen GründerInnen, die den Mut haben, über die Series B hinauszudenken und ihr Unternehmen als langfristige Mission zu verstehen, nicht als schnelle Exit-Opportunität.

Gleichzeitig müssen wir das Verhältnis zwischen GründerInnen und InvestorInnen neu definieren. Statt bei den ersten Schwierigkeiten nach Austauschmöglichkeiten zu suchen, sollten InvestorInnen zu echten PartnerInnen werden, die GründerInnen in ihrer persönlichen und unternehmerischen Entwicklung unterstützen. Die besten Venture Capital Firmen im Silicon Valley machen es vor: Sie investieren nicht nur Geld, sondern auch Zeit und Energie in die Entwicklung ihrer GründerInnen. Das deutsche VC Cherry Ventures von Ex-Zalando-CMO Christian Meermann vertritt ähnliche Werte: „Wir brauchen Investoren mit Blick auf den Horizont, nicht auf den Exit.“

Ein neues Verständnis von Unternehmertum ist gefragt – eines, das langfristiges Engagement nicht als Mangel an Agilität missversteht, sondern als das würdigt, was es ist: Die Basis für nachhaltige Wertschöpfung und gesellschaftliche Verantwortung.

Decacorns und die Münchner Chance

Gerade München bietet mit seiner einzigartigen DNA ideale Voraussetzungen für dieses neue Unternehmertum. Die Stadt vereint wie keine zweite deutsche Metropole traditionelle Familienunternehmen mit einer dynamischen Startup-Szene. Hier treffen Traditions-Champions wie BMW, Siemens oder Allianz auf innovative Scale-ups wie Celonis, Personio und IDnow. Diese Symbiose schafft ein einzigartiges Ökosystem für nachhaltiges Wachstum.

Die Zahlen sprechen für sich: Mit über 1.300 Startups, mehr als 70 Venture Capital Firmen und einer der höchsten Startup-Überlebensraten Deutschlands bietet München das perfekte Umfeld für die nächste Generation von Decacorns. Besonders wertvoll ist der direkte Zugang zu etablierten UnternehmerInnen und ihren Erfahrungen: Wie baut man ein Unternehmen auf, das Generationen überdauert? Wie führt man Teams durch Krisen? Wie verbindet man Innovation mit Stabilität?

Die Münchner Mischung aus bayerischer Beständigkeit und Silicon Valley Spirit schafft dabei genau die Balance, die es für nachhaltiges Wachstum braucht. Hier können GründerInnen von der Weisheit der etablierten Familienunternehmen lernen und gleichzeitig ihre eigene, moderne Vision von Unternehmertum entwickeln. Diese Kombination macht München zum idealen Nährboden für ein neues, wertebasiertes Unternehmertum.

Der erfolgreiche Weg nach vorne

Die Beispiele der 18 Decacorns zeigen: Echtes Unternehmertum ist der Schlüssel zu nachhaltigem Erfolg. Nicht schnelle Exits oder hohe Bewertungen machen den Unterschied, sondern die Bereitschaft, sich gemeinsam mit dem eigenen Unternehmen weiterzuentwickeln. Die Frage ist nicht, ob Deutschland neue Decacorns hervorbringen kann. Die Frage ist, welche GründerInnen bereit sind, diese Reise anzutreten. Wer hat den Mut, über die nächste Finanzierungsrunde hinaus zu denken und echtes Unternehmertum zu leben?

In meiner täglichen Arbeit mit GründerInnen sehe ich, dass viele das Potenzial dazu hätten. Was oft fehlt, ist das Bewusstsein für die eigene Entwicklungsreise und der Mut, sie anzutreten. Dabei zeigt die Geschichte der deutschen Decacorns: Der Weg ist zwar herausfordernd, aber er lohnt sich.

Die Zeit für diese Transformation ist jetzt. Die Rahmenbedingungen für Startups waren nie besser. Was wir brauchen, ist eine neue Generation von UnternehmerInnen, die nicht nur gründen, sondern auch führen wollen. Die bereit sind, die persönliche Transformation zu durchlaufen und ihre Unternehmen nachhaltig aufzubauen.

*Das sind laut Dorothea von Wichert-Nick die 18 Decacorns in Deutschland, die nach 1945 gegründet wurden: Rossmann, dm, Otto, Würth, Celonis, SAP, Zalando (sehr knapp 10 Mrd.), Nemetschek, Tchibo, BionTech, Liebherr, Asklepios, Enercon, Bechtle, MHK Group, Marquard & Bahls, Droege Group, Rational AG

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Dorothea von Wichert-Nick

Dorothea von Wichert-Nick

Dorothea von Wichert-Nick begleitet mit ihrer Münchner Beratung volate GründerInnen auf ihrem Weg zum CEO. Nach 20 Jahren Führungserfahrung, unter anderem als CEO und COO, unterstützt sie heute Startups in ihrer kritischen Wachstumsphase. Ihre Mission: Wertebasiertes, nachhaltiges Wachstum als Schlüssel für eine zukunftsfähige Wirtschaft.

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