Volle Messehallen wie hier bei der Slush 2018 sind ein ungewohntes Bild geworden. Im Dezember will die Startup-Konferenz in Helsinki zum Offline-Format zurückkehren.
Foto: S. Tischer - Munich Startup

Offline-Events: Brauchen wir das noch oder kann das weg?

Seit bald anderthalb Jahren finden Startup-Events fast ausschließlich online statt. Langsam kehren vereinzelte Veranstaltungen wieder zu einem klassischen Vor-Ort-Format zurück. Doch ist das überhaupt nötig? Ein Kommentar.

In der Zeit vor Corona konnte man sich ohne Probleme jeden Werktag-Abend auf einem oder mehreren Startup-Events in München herumtreiben. Typischerweise wurden Startup-Themen auf einer kleinen Bühne besprochen, in den Pausen genetworkt und dazu innovative Snacks und lokales Bier gereicht. Junge Unternehmen hatten die Gelegenheit, ihr Business dem Publikum zu pitchen. Häufig traf man auf bekannte Gesichter und immer wieder auch überraschende neue Geschäftsideen.

Seit März 2020 gibt es all das nicht mehr: Keine Networking-Veranstaltungen mit lokalem Bier, keine Pitches auf kleinen Bühnen, keine Treffen mit bekannten Gesichtern. Stattdessen wurden im vergangenen Jahr eine Vielzahl digitaler Formate erprobt, die herkömmliche Veranstaltungen mehr oder weniger genau digital abzubilden versuchten – inklusive digitaler Breakout-Rooms und virtueller Networking-Gelegenheiten. Nach einer Fülle digitaler Nachbildungen klassischer Veranstaltungen in den ersten Monaten der Corona-Pandemie sind solche Formate danach spürbar seltener geworden. An deren Stelle getreten sind Online-Events, die sich sehr spezifisch auf ein Thema fokussieren: Branchen-Workshops, virtuelle Pitch-Events und Tutorials.

Diese Entwicklung ist nur natürlich: Events waren vor Corona ein bedeutendes Medium für den Austausch zwischen GründerInnen, InvestorInnen und etablierten Unternehmen. Nachdem das Startup-Ökosystem überraschend von persönlichem auf digitalen Austausch wechseln musste, waren die Grenzen und Möglichkeiten des neuen Mediums noch weitgehend unbekannt. Da lag es zunächst nahe, gewohnte analoge Formate digital nachzubauen. Mittlerweile haben alle Beteiligten dazugelernt und nutzen gezielt die Vorteile des digitalen Zusammenkommens. So etwa die örtliche Entgrenzung: Das bekannte und hochgeschätzte Pitch-Event Cashwalk fand viele Jahre lang in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität statt. Eine Teilnahme erforderte für TeilnehmerInnen von außerhalb Münchens unter anderem die Anreise in die Landeshauptstadt. Die digitale Version des Cashwalks hat sich ihrer physischen Beschränkungen entledigt und bezieht Startups aus ganz Europa ein.

Auch in meinem eigenen Arbeitsalltag hat sich schleichend eine neue Art des Kennenlernens etabliert: Statt auf Zufallsbekanntschaft in Networking-Runden zu setzen, sprechen mich neue Startups auf Linkedin, per Mail oder Telefon an. Auch Investoren sind – wie man hört – aktiver in der Ansprache vielversprechender GründerInnen geworden.

Die Startup-Szene floriert auch ohne Events

Doch hat der Übergang vom analogen auf den digitalen Kennenlernmodus der Startup-Szene geschadet? Keineswegs. Ein Blick auf alle verfügbaren Indikatoren zeigt, dass es für Startups steil nach oben geht. In beiden Quartalen dieses Jahres stellten Münchner Startups beim Einsammeln frischer finanzieller Mittel neue Rekorde auf. Der Bitkom-Ifo-Digitalindex, der die Geschäftslage der Digitalwirtschaft und ihre Erwartungen für die nächsten sechs Monate abbildet, erreichte im Juni ein Allzeithoch und übertrifft in sämtlichen Einzel-Indikatoren das Vor-Corona-Niveau.

Also alles gut auch ohne persönlichen Kontakt? Die schnelle Adaption der neuen Bedingungen ist ein gutes Zeichen für die geistige und operative Beweglichkeit der Startup-Szene. Doch sobald nicht nur die rechtlichen Beschränkungen, sondern auch das gewohnheitsmäßige Unbehagen mit Vor-Ort-Events nachlässt, werden Offline-Veranstaltungen zurückkehren. Sicherlich werden es nicht mehr so viele wie zuvor sein und die TeilnehmerInnen werden ihren Zeiteinsatz für die An- und Abfahrt stärker hinterfragen. Es gibt jedoch Veranstaltungsformate, die schlicht fehlen und sich nicht durch eine digitale Fassung ersetzen lassen. So zum Beispiel Großevents wie die Bits & Pretzels. Die Slush, gewissermaßen das Bits & Pretzels-Pendant in Helsinki, kehrt diesen Dezember zu ihrem alten Format zurück.

Die digitale Konkurrenz wird den klassischen Events auch nach Corona erhalten bleiben. VeranstalterInnen werden gegenüber den Teilnehmenden Sinn und Zweck der Anreise rechtfertigen müssen: ‚Hätten wir das nicht digital machen können?‘ Im besten Fall wird das zu einer harten Auslese führen und nur die fokussiertesten, besten und produktivsten Offline-Events werden vor der digitalen Konkurrenz bestehen. Das wird allen eine Menge Zeit sparen und zugleich Momente persönlichen Kennenlernens ermöglichen, die sich digital nicht ersetzt lassen. Corona hat der Startup-Szene die Gelegenheit gegeben, liebgewonnene Gewohnheiten in Frage zu stellen und durch digitale Alternativen zu ergänzen.

Die Antwort auf die Frage ‚Brauchen wir Offline-Events noch oder können die weg?‘ lautet also: beides. Persönliches Kennenlernen auf Veranstaltungen ist auch in Zukunft unersetzlich. Oft sind digitale Events aber schlicht praktischer, zeitsparender und effizienter.

Simon Tischer

Seit Dezember 2015 schreibt Simon Tischer für Munich Startup. Vorzugsweise berichtet er über Studien, Hintergründe und von Veranstaltungen. Er studierte Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

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