Das Münchner Startup flissade hat einen wandelbaren Raum geschaffen, der Wohnraum und Balkon in einem ist. Mit dem patentierten Konzept will das Gründerteam, die Architekten Lisbeth Fischbacher und Daniel Hoheneder, mehr Flexibilität, Wohnfläche und Qualität für zukunftsfähige Städte schaffen. Wir haben die Gründer in ihrem Büro in der Maxvorstadt besucht.
Gerade in unseren Breitengraden ein willkommener Gedanke: Die ersten Sonnenstrahlen des Jahres wollen wir mit einem Kaffee auf dem Balkon genießen. Kaum haben wir es uns gemütlich gemacht, ziehen Wolken auf. Es wird ungemütlich. Alles wieder reinräumen? Mühsam!
flissade will genau das überflüssig machen. Verschiebbare Glastüren schweben leicht über ein Schienensystem von innen nach außen – in Sekundenschnelle ist aus dem Balkon ein Teil des Wohnzimmers geworden. Oder aus der Restaurant-Terrasse eine Art Wintergarten. Oder aus dem Autohaus, bei dem der schicke Porsche im Freien steht, wird ein Porsche, der im flissade-Glaskasten ausgestellt ist. Oder mitten im Großraum-Büro entsteht ein abgetrennter Besprechungsraum. Oder, oder, oder… Im Gespräch wird schnell klar: Für die Architekten sind die Einsatzmöglichkeiten ihres Produkts unendlich.
Eine flexibel nutzbare Fläche, die individuell angepasst wird
Gerade in Zeiten der zunehmenden Urbanisierung hat sich das Gründerteam mit der Idee eines wandelbaren Raums einen aufregenden Markt gesucht. Die Antwort auf die Fragen: Wie entwickelt sich die Gesellschaft, und wie sind die Anforderungen an zukunftsfähiges Wohnen, Leben und Arbeiten? Wie lebt man morgen oder übermorgen in Städten? Auf die stetig wachsende Nachfrage nach Wohnraum haben die Gründer mit ihrer Idee eine mögliche Antwort gefunden. Für das Konzept wurde das Startup bereits mit dem „Bayerischen Gründerpreis 2017“ ausgezeichnet, und auch den Münchner Gründerpreis erhielt das Unternehmen vergangenes Jahr.
Die ersten Schritte und ein Patent
Was einfach klingt ist das Ergebnis einer mehrjährigen Entwicklungsarbeit. Die beiden Gründer hatten sich für ein Studienprojekt an der TU München zusammengetan. Im Projekt sollten sie eine Lösung für energetische Sanierungen von Gebäuden entwickeln. Als ihr Architektur-Professor die Studenten darauf hinwies, dass sie dabei etwas vollkommen Neuartiges konzipiert hatten, keimte der Gedanke: Lass uns das wirklich umsetzen!
Und dann ging es auf einmal schnell. Erst kam die Patentrecherche, und als klar war, dass es das Konzept so noch nicht gibt, meldeten die beiden innovativen Architekten ein Patent an und gründeten 2013 die flissade GmbH. Das notwendige Rüstzeug erhielten die Gründer bei der UnternehmerTUM. Die ersten Schritte erleichterten ein EXIST-Stipendium und die anschließende Flügge-Förderung.
Startup und Mittelstand – ein bunter Strauß an Partnern
Erfolgreiche Gründerteams sind interdisziplinär aufgestellt, heißt es. Bei flissade ist das nicht der Fall. Wie bewerten das die beiden Gründer? Im Nachhinein betrachtet wäre es sicher hilfreich gewesen, jemanden mit BWL und Sales-Kenntnissen im Team zu haben, meinen beide. Aber, so Daniel Hoheneder:
„Man kann sich keinen Mitgründer schnitzen.“
Letztlich, so Lisbeth, haben sie Know-how einfach anders an Bord geholt: Indem sie offen über ihre Idee sprachen, häufig auf Messen gingen, viel Kundenfeedback einholten, und Partner in die Weiterentwicklung des Produkts eingebunden haben.
Gründerin Lisbeth Fischbacher erklärt dazu:
„Wir haben sozusagen verlängerte Werkbänke und bei uns läuft alles zusammen.“
Viele sprechen davon, flissade hat es also getan: Mit Kooperationspartnern aus dem Mittelstand haben die Gründer gemeinsam ihr Konzept so weiterentwickelt, dass es nun bereit für die Vermarktung ist. Für die zwei Architekten war es wichtig, sich die notwendige Expertise aus anderen Bereichen dazuzuholen.
Pilotprojekt mit den SWM
Am Firmensitz in der Münchner Maxvorstadt haben die Gründer die erste flissade installiert. Es ist Anschauungsobjekt, Gemeinschaftsbüro und Außenbesprechungsraum in einem. Im Mai soll in neu gebauten Werkswohnungen der Stadtwerke München (SWM) das erste richtige Pilotprojekt entstehen. Eine flissade wird im obersten Geschoss des Neubaus am Dantebad eingebaut.
„Die Stadtwerke sind für uns ein wichtiger Pilotkunde, weil sie ein grundsolides, großes Unternehmen sind, stark tätig im Immobiliensektor und mit sehr interessanten Flächen in der Innenstadt. Wir freuen uns sehr, dass die SWM uns das Vertrauen entgegenbringen,“
sagt Daniel.
„Außerdem sehen die Stadtwerke sich selbst als Pilotkunde. Sie sind total gespannt, wie der ganze Prozess entwickelt wird! Das ist von beiden Seiten eine sehr gute Konstellation,“
ergänzt Lisbeth.
Bootstrapping und Querfinanzierung für kleinere Projekte
Für das Startup war es jedoch ein weiter Weg zum ersten Referenzprojekt. Denn gerade im Immobilienbereich kämpfen junge Unternehmen mit den langen Projektlaufzeiten. Schließlich muss man sich zwischenzeitlich über Wasser halten. Die flissade-Gründer haben Glück — neben der wichtigen Entwicklungsarbeit im Startup blieb gerade genug Zeit, sich über ihr Architekten-Know-how quer zu finanzieren.
Aber 2018 ist ein Jahr des Umbruchs für flissade: raus aus dem Entwicklermodus und durchstarten mit dem SWM-Pilotprojekt. Außerdem sollen weitere Projekte in fortgeschrittener Akquisephase vorangetrieben werden — vom Einfamilienhaus bis zum Wohnturm mit 400 Einheiten. Um die Schlagkraft zu erhöhen, planen die Gründer, im Vertrieb und Marketing Personal einzustellen.
Daniel erklärt:
„Wir müssen wachsen, damit wir den Sprung in den Markt machen können. Wir haben die letzten Jahre einen starken Fokus auf den Prozess hinter dem Produkt gelegt: Wie baut man in der Zukunft, was ist Industrie 4.0 in Bezug auf Bauen?“
Er ergänzt:
„Daraus haben wir einen innovativen Prozess entwickelt, wie wir — weil wir selber kein Hersteller sind — mit anderen zusammenarbeiten. Reibungslos und über eine digitale Kette in der gesamten Umsetzung. Und dafür brauchen wir gute Leute im Bereich IT und Maschinenbau.“
Das Startup kann und will sich also nicht einfach in die Architekten-Schublade stecken lassen. Es bewegt sich gleichzeitig in den Bereichen Bauindustrie, Industrie 4.0 und Smart City.
Industrie 4.0 auf dem Bau für eine smarte Stadtentwicklung
Mit Hilfe des hinter dem eigentlichen Produkt stehenden smarten Prozessplanungs-Tools plant das Startup, schnell zu skalieren. Denn damit kann jeder Architekt eine flissade in verschiedensten Abmessungen direkt in der eigenen Planungssoftware in 3D erstellen.
Gründer Daniel erklärt:
„Wir sehen das als ganz wichtigen Baustein von zukünftigen Planungs- und Modernisierungsprozessen. Bauen hängt immer gute 20 Jahre dem Maschinenbau hinterher. Im Bauen wird gerade vermehrt ein digitales Abbild geschaffen mit allem was man hat an Haustechnik, Tragstruktur, Ausstattung, etc.
Damit wir in solchen Planungsprozessen mit dabei sein können, haben wir das Planungstool entwickelt, das komplett konfiguriert werden kann. Wir treiben das aber noch sehr viel weiter.“
Denn momentan gibt es einen starken Cut zwischen dem, was auf Planungsseite passiert, und dem, was die Realisierung betrifft. Mit dem neuen Tool jedoch kann das, was der Architekt sich wünscht, im gleichen Moment real umgesetzt werden. Das Tool hilft den Gründern auch bei der Markterschließung. Wie das? In München interessieren sich beispielsweise insbesondere Privatkunden für die flissade als Mehrwert für ihr Eigenheim. In diesem Fall kann der Privatkunde einfach einen eigenen Architekten beauftragen, der jedoch mit Hilfe des Planungstools die flissade unkompliziert integrieren kann.
Wohnutopie wird Realität
Neben München sind für das Gründerteam europäische Metropolregionen ein spannender Markt, allen voran skandinavische Großstädte. Denn insbesondere in Städten, die stark selbst die Stadtentwicklung vorantreiben, wird zukunftsfähig gebaut. Hier entdeckt man also eher neue Konzepte und Wohnutopien. Und genau in dem Bereich sehen sich die Gründer mit ihrem Raumkonzept.
Ob die Gründer und ihr Konzept der flissade sich in Zukunft beweisen und behaupten können? Immerhin steht der Proof of Market noch aus. Doch mit dem Pilotprojekt, das sie für die SWM installieren dürfen, ist ein großer Schritt getan. Und die vielen Projektanfragen, die die Gründer derzeit erhalten, zeigen: Es kann und wird wohl auch künftig spannend weitergehen.