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Certivity hilft Ingenieuren durch den Vorschriften-Dschungel

Über 2.500 Vorschriften müssen Ingenieure beachten, wenn sie ein neues Auto entwickeln, und verschiedene Blinker-Farben in den USA und Europa sind dabei nur das kleinste Problem. Dabei ist der Prozess dahinter immer noch ein manueller Zeitfresser. Das Münchner Startup Certivity will das ändern und mit seiner Plattform die Überprüfung der Regularien digitalisieren, vereinfachen und beschleunigen. Im Interview erklärt Co-Founder Nico Wägerle, was Certivity besonders macht und warum die Automobil-Branche auf seine Lösung wartet.

Munich Startup: Wer seid Ihr und was macht Ihr? Stellt Euch bitte kurz vor!

Nico Wägerle, Certivity: Ich bin Nico Wägerle (31). Ich bin Jurist und habe sechs Jahre lang in der Automobilindustrie in verschiedenen Positionen als Jurist gearbeitet. Dabei war ich unter anderem in den Bereichen Datenschutz und autonomes Fahren tätig. Dann haben wir Bogdan „Bob“ Bereczki (45). Er ist Luft- und Raumfahrtingenieur und war außerdem sehr lange in der Produktregulatorik im Bereich Automobil tätig und hat dort Regularien mitentwickelt und auch zertifiziert, im Automotive-Bereich nennt sich das homologiert.

Sami Vaaraniemi (56) ist Vollblut-Softwareingenieur, er hat Computer Science studiert und bei Microsoft die Azure Cloud mitaufgebaut und noch bei weiteren Top Tier Tech Unternehmen wie Skype, Citeo und Nokia gearbeitet.

Und dann haben wir noch Jörg Ulmer (38), er ist auch Softwareingenieur und hat in verschiedenen Unternehmen der Softwarebranche gearbeitet. Außerdem hat er selbst schon einmal gegründet, nämlich das Startup Midiaid, eine Vermittlungsplattform für Hebammen.

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Das Gründerteam von Certivity (v.l.n.r.): Nico Wägerle, Jörg Ulmer, Bogdan „Bob“ Bereczki und Sami Vaaraniemi. (Foto: Certivity)

Wie haben wir zusammengefunden? Bob und Ich kennen uns aus unserem alten Job bei der Autonomous Intelligent Driving GmbH in München. Ich war in der Rechtsabteilung, Bob bei der Produktzertifizierung. Dort haben wir auch den Sami kennengelernt, allerdings nur flüchtig, denn wir hatten beruflich nie miteinander zu tun. Als wir dann mit unserem Unternehmen so weit waren und erste Produktideen ausgeschrieben hatten, haben Bob und ich zuerst mit einem anderen Softwareentwickler gestartet. Vom dem haben wir uns aber nach einer gewissen Zeit wieder getrennt. Auf der Suche nach neuen Softwaretechnikern und -entwicklern haben wir dann in einer Whatsapp-Gruppe mit alten Mitarbeitern der AID unser Job-Offering gepostet. Darauf hat sich Sami gemeldet und den Job als Co-Founder & Chief Software Officer übernommen.

Parallel haben wir Jörg über ein Accelerator-Programm kennengelernt, an dem wir in Stuttgart teilgenommen haben, „Steyg Next“. Jörg hatte da mit Midiaid teilgenommen. Als er gehört hat, dass wir nach Software-Unterstützung suchen, hat er sich dann sofort bei uns gemeldet.

„Man muss während der Entwicklung diese ganzen Fahrzeugvorschriften in den Entwicklungsprozess einbeziehen“

Munich Startup: Welches Problem löst Euer Startup?

Nico Wägerle: Wir von Certivity entwickeln eine Automotive-RegTech-Solution, also eine Software-Technologie, die Compliance-Prozesse unterstützt. Das Problem dabei ist, dass das Auto hochgradig reguliert ist, mehr als 2.500 verschiedene Fahrzeug-Vorschriften finden auf das Auto weltweit Anwendung. Und es ist so, dass in der EU ein Auto bevor es überhaupt auf den Markt kommt zertifiziert werden muss. Das nennt sich Typgenehmigung oder Homologation. Deswegen muss man schon während der Entwicklung die anwendbaren Fahrzeugvorschriften in den Entwicklungsprozess einbeziehen.

Außerdem ist die regulatorische Welt im Bereich Automobil sehr international geprägt. Der Gesetzgeber für den größten Markt sind die Vereinten Nationen mit der United Nations Economic Commission for Europe (UNECE). Die draftet Fahrzeugregulatorien, die dann in der Europäischen Union und vielen weiteren Staaten angewendet werden. Aber zum Beispiel die USA oder China haben wieder eigene Regeln und Rechtssysteme, die ein bisschen anders funktionieren.

Wenn ich also als Ingenieur etwas entwickle, muss ich zuerst einmal herausfinden, welche Vorschriften überhaupt für das Gesamtfahrzeug, mein System, meine Komponenten, oder was ich eben baue Anwendung finden. Dann muss ich die Anforderungen aus den Produktregularien extrahieren und in den Entwicklungsprozess einbetten. Und im dritten Schritt muss man in der Regel dann auch noch – wenn die Regularie vielleicht nicht eindeutig ist – eine Interpretation vornehmen, zusammen mit einem Juristen oder mit einem Regulatory Officer. Das war zum Beispiel mein Job oder auch der von Bob, wir haben da sehr eng mit den Ingenieuren zusammengearbeitet.

Regularien ändern sich drei- oder viermal im Jahr

Wenn ich das alles gemacht habe kann es aber trotzdem sein, dass sich an der Regularie etwas ändert. Das ist beim Automobil auch sehr häufig der Fall, drei- bis viermal im Jahr. Dann muss ich alles wieder von vorne machen. Das heißt, ich muss als Ingenieur immer über Änderungen informiert werden. Ich muss schauen, ob das, was für mich Anwendung findet, davon betroffen ist und möglicherweise, wenn ich eine Interpretation auf Basis der alten Regularien getroffen habe, diese vielleicht neu treffen.

Diese ganzen Prozessschritte finden heute noch überwiegende durch menschliche Arbeit und daher sehr manuell statt und es gibt kein richtiges Tool dafür. Und das ist eben ein Problem, weil es sehr arbeitsintensiv ist und die Ingenieure mit Aufgaben konfrontiert, die nicht ihre Kernkompetenz als Ingenieure fordern. Mit Certivity lösen wir genau dieses Problem, indem wir eine Softwareplattform bauen, die für das regulatorische Management zuständig ist und dem Ingenieur einen großen Teil dieser Aufgaben abnimmt.

Und die werden deutlich komplexer, je komplexer die Systeme im Fahrzeug werden. Aktuell kommt zum Beispiel sehr viel Software & Elektronik in die Autos, etwa mit automatisierten Notbremsfunktionen oder Spurhaltesystemen, die das Fahrzeug durch Sensorik und Lenk- und Bremseingriffe in der Spur halten. Da sind nicht nur die Systeme komplex, sondern auch die Regulatorik. Durch manuelle Prozesse wird das sehr schwer und sehr umfangreich. Deswegen ist jetzt der richtige Zeitpunkt für unsere Lösung gekommen. Wir bringen ein Produkt auf den Markt, das diese Komplexität deutlich reduziert.

Certivity erstellt aus Regularien digitale Datenmodelle

Munich Startup: Aber das gibt’s doch schon längst!

Nico Wägerle: Das was heute schon gemacht wird ist viel teurer und umständlicher. Wir digitalisieren den regulatorischen Inhalt: Was bisher als PDF vorliegt, daraus erstellen wir ein digitales Datenmodell, und zwar auf Paragraphenebene. So können wir viele Attribute hinzufügen. Das heißt, bei uns bekommt man nicht mehr ein PDF, so wie bei Datenbank-Anbietern, sondern regulatorische Elemente, aus denen man ein regulatorisches Modell eines echten Produktes zusammenfügen kann. Außerdem kann man unser Modell auch mit weiteren Entwicklungstools verbinden und so mit ihnen interagieren.

Nehmen wir zum Beispiel die Entwicklung eines automatisierten Notbremssystems, das ist verpflichtend in der Europäischen Union. Wird ein Hindernis auf der Straße erkannt und es gibt keinen Bremseingriff, muss das Fahrzeug automatisch bremsen können. In der technischen Regulatorik sind dann zum Beispiel Bremseingriffe, Verzögerungsgeschwindigkeiten und so weiter geregelt. Für ein solches System würde ich jetzt auf unserer Plattform das Set an Requirements aus der UN-Vorschrift anwenden. Und weil ich auch noch nach China will, nutze ich auch noch die entsprechenden Sets an Requirements zusätzlich. Das packe ich alles zusammen zu einem regulatorischen Systemmodell, das ein Abbild von meinem Produkt darstellt. Wenn sich jetzt an der Regulatorik etwas ändert können wir das direkt einspeisen und auf das Modell anwenden, um eventuell noch einmal an der Produktauslegung arbeiten. So können wir das Modell permanent mit wenig Aufwand für den Ingenieur aktuell halten.

„Wir können das Modell permanent mit wenig Aufwand aktuell halten“

Außerdem können wir alle Nachfragen oder Interpretationen am demModell oder anhand eines konkreten Paragraphen ablegen. Wenn also zum Beispiel eine Vorschrift verlangt, dass es ein optisches und akustisches Warnsignal gibt, wenn dieses System eingreift, dann fragt sich ein Ingenieur natürlich, was das genau für die Umsetzung bedeutet.

Über unsere Plattform kann ich diese Rückfragen stellen und die Antwort an einem Systemmodell, an dem Paragraphen, wo es hingehört, ablegen und für die Zukunft transparent speichern. Bisher ist das per E-Mail passiert, und die E-Mail ist dann in der Regel im Postfach von den Regulatorik-Kollegen oder von dem Entwickler hängen geblieben. Und es ist nicht mehr wirklich nachvollziehbar, wie es zu einer bestimmten Interpretation gekommen ist.

Munich Startup: Was war bisher Eure größte Herausforderung?

Nico Wägerle: Die Zusammenarbeit mit den Automobilunternehmen. Da erst einmal durch die Onbaording-Prozesse durchzukommen, das ist definitiv herausfordernd. Vor allem als junges Unternehmen, das schnell Traction aufbauen muss. Da war es oftmals so, dass wir für Proof-of-Concept-Verträge teilweise fünf bis sechs Monate durch verschiedene Prozesse durchlaufen mussten.

Munich Startup: Wo wollt ihr in einem Jahr stehen? Wo in fünf?

Nico Wägerle: Wir haben aktuell mehrere Proof-of-Concept-Kunden, mit denen wir zusammenarbeiten, und weitere sind quasi in der Sales-Pipeline. Parallel entwickeln wir die 1.0 Version von unserem Produkt. Die soll in Q2 im nächsten Jahr so weit sein, dass wir sie ausrollen können und die ersten wiederkehrenden Umsätze generieren. Außerdem hätten wir dafür gerne eine Finanzierungsrunde abgeschlossen, um das Unternehmen hoch zu rampen.

In zwölf Monaten wollen wir dann wiederkehrende Kunden haben, die unsere Software einsetzen.

Certivity hat bereits weitere Industrien im Blick

In fünf Jahren wollen wir im Bereich Automobile noch tiefer integrieren. Denn mit unserem regulatorischen Modell kann man – wenn es einmal gebaut ist – viel mehr machen. Zum Beispiel kann man die Nachweise, dass die Regulatorik eingehalten ist, auch mit abdecken. Außerdem wollen wir mit Certivity in den Verticals skalieren. Wir haben schon jetzt erste Evidenz, dass unser Konzept auch für andere Industrien interessant ist. Deswegen wollen wir auf jeden Fall die Bereiche erweitern, in denen wir unser Produkt anbieten.

Munich Startup: Wie schätzt Ihr den Startup-Standort München ein?

Nico Wägerle: Ich finde München super! Wir haben ja während Corona gegründet, wir gehören zu diesen Wahnsinnigen, die tatsächlich den guten Job während der Pandemie aufgeben und sich ins Ungewisse wagen. Aber in München mit seiner coolen Infrastruktur haben wir tolle Unterstützung bekommen. Wir sind zum Beispiel im Austausch mit Baystartup und dem Munich Urban Colab. Außerdem haben wir 36.000 Euro bei Start?Zuschuss! gewonnen. So ein Programm kenne ich jetzt spontan aus meinem Heimat-Bundesland Baden-Württemberg nicht. Wir sind jetzt im Werk1, da können wir zu einem sehr günstigen Preis Büroräume anmieten. Außerdem ist München super belebt mit den ganzen VCs. Jeden Tag kommt irgendwie etwas Neues, es macht einfach Spaß.

Munich Startup: Auto oder Fahrrad?

Nico Wägerle: Wir sind definitiv begeistert von Autos, so viele Automobil-Jahre wie wir alle gemeinsam haben. Aus Berufsgründen finden wir unsere Produkte recht attraktiv. Auf der Langstrecke bin ich definitiv ein Fan vom Auto, aber auf der Kurzstrecke bin ich persönlich ein totaler Fahrradfan, vor allem in München. Ich fahre gerne hier Fahrrad.