Digital Health – wie ist die Münchner Startup-Szene aufgestellt?

Die Region München gehört zu den herausragenden Standorten der Medizintechnik in Deutschland — und wie sieht die hiesige Digital Health Branche aus? Wir haben die Münchner Gründerszene befragt, wo Herausforderungen und Chancen liegen, wie das Ökosystem hier aufgestellt ist und welche Tipps sie für eHealth-Startups haben.

Mit 19.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in 350 Unternehmen erwirtschaftet die MedTech-Branche insgesamt einen Jahresumsatz von 4,1 Milliarden Euro (Stand 2015). Gleichzeitig ist die Münchner Medizintechnik ein starker Innovationstreiber. Etwa ein Viertel der hier tätigen Unternehmen, Zulieferer und Dienstleister wurden nach der Jahrtausendwende gegründet. Welche Bedeutung findet darin speziell der Bereich Digital Healthcare?

Digital Healthcare – eine Einordnung

Digital Health beschreibt grundlegend den Einsatz digitaler Technologien im Gesundheitswesen, einschließlich des Begriffs Telemedizin (der gern in Deutschland verwendet wird) oder eHealth. Digital Health will die Verwaltungsprozesse der Gesundheitsbranche verbessern und das Miteinander zwischen Arzt und Patient. Die Kommunikation untereinander, aber auch die Unterstützung bei der Vorsorge, Diagnose und bei Therapien stehen im Fokus. Hierbei sind das Gesundheitswesen allgemein, die Kranken- und Pflegeversorgung, aber auch die Pharma- und Versicherungsbranche angesprochen. Insbesondere stehen dabei zwei Schlüsseltechnologien im Fokus: Zum einen Big Data und die Erfassung der Daten. Zum anderen Künstliche Intelligenz (KI) und die Nutzung der Daten.

Die Chancen

Profitieren können die Patienten, die Ärzte, die Versorger, aber auch die Gesellschaft als Gesamtheit. Die Qualität der Gesundheitsversorgung könnte gesteigert werden, die Effizienz und die Transparenz wachsen und das effizientere Gesundheitssystem würde zusätzlich Kosten einsparen. Es gäbe eine schnellere und zielgerichtetere Behandlung, eine effizientere Verwaltung.

„Insbesondere Telemedizin hat viel Potential, im Gesundheitswesen erhebliche Effizienzreserven zu heben. Das fängt bei schnellerer und transparenterer Datenübertragung an und endet bei Online-Sprechstunden per Chat und Video,“

so Dr. Thomas Rudolf, Mitglied des Vorstands der Oberender AG. Teleclinic, ein Münchner Startup, bietet bereits Video- und Chatsprechstunden an. Sebastian Hilke, Projektmanager beim Medical Valley EMN e.V., erklärt dazu:

„Die Öffnung der sogenannten Fernbehandlungsverbotes für Modellprojekte in Baden-Württemberg und die […] von der Bundesärztekammer bundesweite Lockerung dieses Verbotes sind wichtige Meilensteine um dieses Thema voranzubringen.“

Außerdem wird die geplante bundesweite Einführung einer elektronischen Patientenakte im Jahr 2021 einen weiteren Schub geben, so der Experte.

Konstantin Mehl
Konstantin Mehl, Gründer von Kaia Health, sieht in Digital Health Lösungen eine langfristige Hilfe für chronisch erkrankte Patienten.

Gerade bei langwierigen Krankheiten, deren Behandlung teuer ist, bietet die Digitalisierung immense Vorteile. Die Patienten seien außerdem für eine bessere medizinische Versorgung durch die Digitalisierung sehr offen, besonders wenn es um chronische Krankheiten geht, so Konstantin Mehl, Gründer von Kaia Health, einer App, die bei chronischen Rückenschmerzen helfen soll. Chancen entstehen ebenfalls durch die veränderten Rollen der Beteiligten, meint Dr. Thomas Rudolf:

„Der Patient wird durch Telemedizin und eHealth selbstbestimmter. […] Der Arzt wird mehr Guide für den Patienten durch das Gesundheitswesen, weniger Halbgott in Weiß und Allein-Wissender.“

Gleichzeitig bietet der im Umbruch begriffene Markt hochinnovativen Startups großes Potenzial. Jochen Hurlebaus, Projektleiter und Head of Innovation & IP Management bei Roche Diagnostics, sagt:

„Die starke Nachfrage nach Digital Health-Lösungen und der hohe Spezialisierungsgrad sind ein klarer Vorteil: Wer als Startup die richtige Idee und das medizinische bzw. technologische Know-how mitbringt, hat wenig Konkurrenz zu fürchten.“

Vertrauen als Schlüsselfaktor

Maria Driesel und Dominik Sievert, Gründer des Health-Startup Inveox und Gewinner des Munich Startup Awards 2018
Maria Driesel und Dominik Sievert, Gründer des Health-Startup Inveox und Gewinner des Munich Startup Awards 2018

Um die Chancen zu nutzen, bedarf es gerade im Gesundheitsbereich einer Sache: Vertrauen. Die Menschen müssen bei der Entwicklung digitaler Gesundheitslösungen „mitgenommen“ werden. Denn das Vertrauen der Gesellschaft in die Innovationen, die Technik und den Datenschutz ist ausschlaggebend für die Akzeptanz. Die große Herausforderung dabei: Sowohl die Verwaltung, als auch der Arzt genauso wie der Patient müssen dieses Vertrauen aufbringen. Dem voran geht die Frage nach den Bedürfnissen und dem erkennbaren Nutzen, gleich gefolgt jedoch durch die Frage, wie die Gesellschaft bei neuen Entwicklungen eingebunden wird. Und das betrifft eben auch diejenigen, die die neuen Tools aktiv einsetzen sollen. Maria Driesel, Gründerin und CEO von Inveox, meint dazu:

„Es ist oft nicht ganz einfach, die breite Basis der Ärzteschaft für neue, digitale Lösungsansätze begeistern. Besonders wichtig sind deshalb die innovationsfreudigen Mediziner, die als gut vernetze und aktive Wegbereiter der ‚Digital Healthcare Transformation‘ wichtige Grundlagen für optimale Patientenorientierung und Zukunftsfähigkeit ihrer Institute legen.“

Hilfreich und wichtig ist außerdem, dass Standards für Digital Healthcare gesetzt werden, um die Glaubwürdigkeit bei den Versicherungen, Patienten und Ärzten zu etablieren, meint Konstantin Mehl von Kaia Health, und ergänzt:

„Deswegen sind wir zum Beispiel Mitglied in der Digital Therapeutics Alliance, wo es darum geht mit den führenden Digital Health Unternehmen die Köpfe zusammen zu stecken und zu überlegen, wo wir als Industrie hinwollen.!

Für ihn steht fest: digitale Therapien brauchen dieselbe klinische Evidenz wie jede andere Therapie. Das schafft Vertrauen.

Herausforderungen wie Datenschutz

Das Vertrauen spielt auch bei einer der großen Herausforderungen bei eHealth eine Rolle: dem Datenschutz. Vertrauen, Datenschutz und Big-Data-Analysen sind nicht voneinander zu trennen. Veronika Schweighart, Gründerin von Climedo Healthnennt hierzu beispielhaft:

„Die fehlende IT-Affinität der meisten Entscheider im Gesundheitsmarkt führen immer noch dazu, dass Cloud-Speicher trotz Erfüllen aller Datenschutzanforderungen als Gefahr und nicht als große Chance wahrgenommen werden. Dies hemmt den Einsatz von KI immens.“

Die Vorteile von der Auswertung strukturierter Datengrundlagen werden aktuell also nicht ausgeschöpft. Der Mediziner Dr. Dominik Pförringer bringt es so auf den Punkt:

„Aus meiner Sicht schützt der Datenschutz den Patienten vor der optimalen Behandlung. Anders ausgedrückt: der Datenschutz dient primär dem gesunden Menschen. In dem Moment, wo eine Krankheit oder ein Problem auftaucht, wünscht sich jeder Involvierte sofort Zugriff auf einen möglichst breiten und tiefen Schatz an Daten und somit relevanten Informationen.“

Die Anonymisierung ohne Klarnamen und ohne Rückverfolgbarkeit bei gleichzeitiger Sicherstellung höchstmöglicher Datenintegrität sollte also das Ziel sein.

Stolpersteine: Regulation und Risikokapital

Auch im zweiten Punkt sind sich hinsichtlich der Herausforderungen alle einig: Agile Startups und das behäbige deutsche Gesundheitswesen haben aktuell Schwierigkeiten miteinander. Hierzulande ist der regulatorische Rahmen für Startups eine Qual. Denn die Anforderungen an Medizinprodukte (Stichwort: CE-Zertifizierung) sind hoch. Ein Startup benötigt also einen sehr langen Atem und große finanzielle Reserven, bis die Zulassung erreicht ist. Mit hinein spielt hier der teilweise schwierige Zugang zu Risikokapital, gerade in dieser Branche. In München gibt es allerdings einen Verein namens Angels4Health, in dem sich Business Angel mit Fokus auf Healthcare und Life Science zusammengetan haben. Treffen können Startups die Angel auf Events wie dem Munich Investment Forum.

Ebenfalls ein Stolperstein ist das oftmals fehlende Wissen der Startups im Gesundheitsbereich – sei es bezüglich des idealen Vorgehens bei der Zulassung oder hinsichtlich des Vergütungsmodells der Krankenkassen. Dr. Dominik Pförringer erklärt:

„Viele neuartige Ansätze lassen sich in den bestehenden Gebührenordnungen (noch) nicht abbilden und werden somit nicht adäquat vergütet. Hier ist der Gesetzgeber in der Position neue Akzente zu setzen.“

An genau das Branchenwissen heranzukommen ist für Startups oftmals die größte Herausforderung. Aber gerade die Münchner eHealth bietet viele Möglichkeiten, genau dieses Wissen zu erhalten.

Möglichkeit 1 – Kooperationen als ein Weg im deutschen Markt

Was also braucht es, damit Digital Health Startups es auf dem deutschen Markt leichter haben? Wie kann der Wandel also gestaltet werden? Kooperationen sind hier ein wichtiges Schlagwort. Und hier, genau wie in anderen Branchen auch, sollten Silodenken und Insellösungen ausgedient haben. Jochen Hurlebaus, der auch Mentor im Digital Health Accelerator, sagt:

„Um erfolgreich die Weichen für die Gesundheitsversorgung von morgen zu stellen, ist es wichtig, dass verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Stärken zusammenarbeiten.“

Denn während etablierte Unternehmen viel Know-how – zum Beispiel im Bereich regulatorische Anforderungen – mitbringen, das den Startups fehlt, bringen diese wiederum die Dynamik und neue Ideen ein, die für die Entwicklung digitaler Lösungen nötig sind. Die Agilität und der klare Kundenfokus der Startups bringen hier den Mehrwert.

Der Digital Health Accelerator mit Batch Zero
Der Digital Health Accelerator mit Batch Zero (Foto: Roche).

Ein Fokus kann daher beispielsweise auf spezielleren Zielgruppen wie Krankenhäusern oder Praxen liegen, und auf Lösungen, die dort sofort Probleme beheben und sich gleich rechnen. Außerdem versuchen aufgrund unseres speziellen deutschen Gesundheitssystems immer mehr Startups, Kooperationen mit Kassen abzuschließen. Alternativ fokussieren sie sich auf die betriebliche Gesundheitsversorgung oder bieten direkt für den Endkunden Lösungen an.

Möglichkeit 2 – Vernetzung: München und seine eHealth-Szene

Wie ist nun München bei Digital Healthcare aufgestellt? ‚Stärker als man denkt‘, ‚unschlagbares Ökosystem‘, ‚hervorragender internationaler Ruf‘ und ‚im Wachstum‘, sagten die Interviewten. Dr. Dominik Pförringer meint sogar:

„München entwickelt sich aus meiner Perspektive zusammen mit dem Medical Valley Erlangen zu der deutschen Hochburg für medizinische Innovation. Es herrscht derzeit eine regelrechte Goldgräber-Aufbruchsstimmung in der Bayerischen eHealth Szene.“

Die Stärke hat mehrere gute Gründe: Zum einen sammeln sich hier starke medizintechnische Unternehmen kombiniert mit Pharmafirmen und Technologiekonzernen wie Google, Microsoft und IBM. Zum anderen gibt es die universitären Strukturen mit TU und LMU und ihren medizinischen und medizinnahen Fakultäten sowie den Startup-Förderprogrammen. Gleichzeitig haben sich in den letzten Jahren rund um das Werk1 der Digital Health Accelerator sowie der InsurTech Accelerator gebildet, gemeinsam mit dem international renommierten Accelerator Plug & Play, der in München seinen Schwerpunkt auf Health und Insurance setzt. Und nicht zuletzt profitieren die Unternehmen auch von der bayerischen Digitalisierungsstrategie und der damit verbundenen Unterstützung. So wurde beispielsweise der Medical Valley Award als Vorgründungswettbewerb zur Förderung der Branche geschaffen (Anm. d. Red.: Die Bewerbungsfrist geht bis 30. November 2018). Und auch das Forum MedTech Pharma unterstützt und vernetzt.

Möglichkeit 3 – Von anderen lernen: Hands-on Tipps

Im vorigen Absatz wurden Wege aufgezeigt, wie und vor allem wo sich Startups vernetzen und voneinander lernen können. Aber wir wollen auch konkrete Ratschläge geben. Konkret haben zwei Startups ihre Tipps ausgepackt. Dominik Sievert, Mitgründer von Inveox, nennt allem voran den „Digital Health Accelerator“ von Roche und Plug&Play, in dem sie im ersten Batch teilnehmen durften. Hier konnte das Startup in hohem Maße von den Mentorings, den Einblicken in die Industrie und vor allem vom Netzwerk profitieren, so der Gründer:

„Im Digital Health Accelerator bekommen ausgewählte Startups wertvollen Rückenwind und viel Business Know-how mit auf den Weg.“

Aber auch das Garchinger Gründer und Technologiezentrum gate ist für Inveox ein besonders guter Standort, denn hier gibt es einen erfreulichen Zuwachs an MedTech-Startups wie Terraplasma, dynamify oder Vision Health. Hilfreich sind außerdem die Netzwerkveranstaltungen des Biotech-Clusters BioM in Martinsried, Events wie das Healthcare  Innovation Forum oder das regelmäßig stattfindende Digital Health Entrepreneurship Meetup. Das Meetup ist besonders gut für den informellen Austausch, denn neben der Möglichkeit für einen Kurzpitch bietet sich hier die Gelegenheit schlechthin, als Startups untereinander Tipps auszutauschen, oder mit anderen Akteuren offen in Kontakt zu treten.

Dr. Johannes Kreuzer, Gründer von cosinuss, geht auf das Thema ‚langer Atem‘ und Finanzierung ein: Er hatte die lange Zeit zur Zulassung als Medizinprodukt so überbrückt, dass sein Startup einerseits direkt ein B2C-Produkt entwickelte, andererseits aber auch Auftragsarbeiten für Unternehmen übernahm. Sein Tipp daher: Geschäftsmodelle, die nicht als Medizinprodukt laufen. Oder Geschäftsmodelle, bei denen man direkt im Hilfsmittelkatalog der Krankenkassen gelistet werden kann.

Dazu ergänzt Dominic Niebler, Startup Consultant bei der Barmer Krankenkasse in München:

„Da es noch kaum Wege in die Kollektivversorgung gibt, können Kassen über einzelne Selektivverträge oder gemeinsame Präventionsprojekte Startups mit Potenzial unterstützen. Dabei generieren wir auch Evidenz zur Wirksamkeit dieser Anwendungen was den Startups beim weiteren Markteintritt hilft.“

Allerdings haben die Kassen für Kooperationen wie mit dem Münchner Startup Kaia Health nur ein enges Budget. Daher versucht der Consultant, Startups mit Know-how zu unterstützen, damit diese sich besser „im Regulatorik-Dschungel des deutschen Gesundheitswesens“ zurechtfinden.

München: „Deutsche Hochburg für medizinische Innovation“

In München ist die Digital Health Szene im Aufbruch. Die Vernetzung funktioniert besser, als vor einigen Jahren, denn neben informellen Meetups gibt es nun auch Acceleratoren. Auch werden die einzelnen Akteure sichtbarer und dadurch Unterstützer direkt ansprechbar. Und erfolgreiche Münchner Startups in dem Bereich gibt es so viele, dass wir sie in einem einzigen Artikel nicht alle aufzählen können.

Was also bedarf es, damit die Münchner Digital Health Szene weiter gut wachsen kann? Neben all der genannten Punkte vor allem eines: Kooperation zwischen den unterschiedlichen Akteuren sowie das Bündeln von Know-how aus der Medizin mit dem Wissen aus IT und Digitalisierung. Dr. Pförringer hat dazu außerdem eine schöne Vision:

„Meine Idealvorstellung ist ein digitales medizinisches Zentrum zur Förderung von Entwicklung, Lehre, Ausgründung und anschließender Inkubation.“

Wir sind jedenfalls gespannt, wohin sich die Münchner eHealth-Szene in Zukunft entwickelt und welche spannenden neuen Startups wir auf dem Weg entdecken werden. Wer noch mehr Einblick gewinnen möchte: Über unsere Schlagworte wie Gesundheit, Health, eHealth oder Digital Health finden sich viele weitere Artikel zu Health-Startups, und relevante Branchentermine. Und in einem „Digitale Medizin“-Special von BayStartUP gibt’s ebenso weitere Insights.